Schwerbehinderung: Antworten auf die 6 wichtigsten Fragen

Was bedeuten Schwerbehinderung und Grad der Behinderung? Welche Leistungen stehen mir zu? Als Fachanwalt für Sozialrecht beantworte ich die wichtigsten Fragen.

1. Was bedeutet Behinderung im sozialrechtlichen Sinne?

Der Begriff der Behinderung hat sich im Laufe der Zeit entwickelt. Früher wurden hauptsächlich die (vermeintlichen) Funktionsdefizite von Körper und Verstand eines Menschen betrachtet. Heute wird die Behinderung ganzheitlicher gesehen. Zum einen wird auch die seelische Gesundheit (Depressionen, etc.) beachtet. Zum anderen kommt es auf die Wechselwirkungen mit der Gesellschaft an. Ein anders gearteter Körper wird nur dann zur Behinderung, wenn die Gesellschaft mit ihren Regeln und ihrer Lebensweise eine Behinderung daraus macht. Das Gesetz spricht von „einstellungs- und umweltbasierten Barrieren“ (§ 2 SGB IX). Eine Behinderung im sozialrechtlichen Sinne liegt deshalb unter folgenden Voraussetzungen vor:

  1. Der körperliche, geistige oder seelische Zustand einer Person unterscheidet sich von dem des Bevölkerungsdurchschnitts.
  2. Der Zustand ist chronisch (länger als sechs Monate). Es genügt ein drohender (chronischer) Zustand.
  3. Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist dadurch beeinträchtigt. Es handelt sich um alle vorstellbaren Schwierigkeiten, vom Gehen über das U-Bahn-Fahren bis zum Arbeiten, etc.

2. Was ist der sogenannte Grad der Behinderung? (Tabelle)

Nun wiegt nicht jede Behinderung gleich schwer. Manche beeinträchtigen das gemeinschaftliche Leben mehr, andere weniger. Daher werden je nach Schwere auch unterschiedliche Leistungen zuerkannt. Im Sozialrecht wird zwischen Graden von Behinderung unterschieden, die in 10er-Schritten von 0 bis 100 aufgebaut sind (ähnlich wie Prozente).

Welcher Zustand und welche Krankheit und Beeinträchtigung zu welchem Grad der Behinderung führen, ist gesetzlich relativ genau festgelegt. Die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) enthält in ihrer Anlage eine umfassende Auflistung/Tabelle von Gesundheitsstörungen sowie die zugehörigen Grade der Behinderung.

Die konkrete Bestimmung des Grades der Behinderung einer Person erfolgt durch eine: ärztliche:n Gutachter:in. Aus der Praxis weiß ich, dass die Begutachtung durchaus fehleranfällig ist. Widerspruch und Klage können sich lohnen!

Hinweis: Liegen aufgrund mehrerer Beeinträchtigungen auch mehrere Grade der Behinderungen vor, kommt es nicht einfach zur Addition. Es wird vielmehr der höhere Grad der Behinderung als Ausgangsbasis genommen. Sodann gibt es einen Aufschlag für die weiteren Beeinträchtigungen in ihrer Wechselwirkung zueinander. Klingt kompliziert? Ist es auch – und daher ebenfalls eine häufige Fehlerquelle beim Thema Schwerbehinderung.

3. Was bedeutet Schwerbehinderung?

Schwerbehindert ist, wer einen Grad der Behinderung von 50 aufweist. Das ist deshalb bedeutsam, da sich hieran besondere rechtliche Folgen anschließen. Personen mit einem solchen GdB erhalten erweiterte Leistungen (siehe unten) und einen Schwerbehindertenausweis.

Personen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 30 können Schwerbehinderten gleichgestellt werden. Das heißt, sie haben im Grundsatz Anspruch auf dieselben Leistungen. Diese Gleichstellung steht allerdings unter einer Voraussetzung. Die Beeinträchtigung muss konkret dazu geeignet sein, die Teilnahme am Arbeitsleben zu gefährden, zum Beispiel durch häufige Fehlzeiten, geringere Belastbarkeit oder eingeschränkte Mobilität infolge der Behinderung. Die dann mit der Gleichstellung zur Schwerbehinderung folgenden Leistungen stehen mit diesen Nachteilen im Zusammenhang: besonderer Kündigungsschutz, behindertengerechte Arbeitsplatzausstattung, Beschäftigungsanreize für Arbeitgeber, etc.

4. Was sind Merkzeichen und welche gibt es?

Merkzeichen sind ein weiterer Bestandteil des sozialen Behinderungsrechts. Sie sind zum Teil ebenfalls in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung aufgelistet. Die Merkzeichen folgen dem Gedanken, dass manche Beeinträchtigungen, die vielleicht für sich noch nicht einmal einen Grad der Behinderung von 50 rechtfertigen, in ihrer Wirkung für das Alltagsleben besonders herausragen. Personen, denen ein solches Merkzeichen zuerkannt wurde, erhalten deshalb nochmals besondere Ausgleichsleistungen. Es gibt unter anderem folgende Merkzeichen:

  • Merkzeichen G: Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (zum Beispiel blinde und taube Menschen)
  • Merkzeichen aG: außergewöhnliche Gehbehinderung (zum Beispiel Notwendigkeit für Rollstuhl)
  • Merkzeichen B: Begleitung erforderlich
  • Merkzeichen Bl: blind
  • Merkzeichen Gl: gehörlos
  • Merkzeichen H: hilflos
  • Merkzeichen TBl: taubblind
Schwerbehinderung wird mit staatlicher Unterstützung etwas leichter
Foto: Vlada Karpovich

5. Welche Leistungen gibt es auf welcher Stufe? (Tabelle)

Die Leistungen bei Behinderung sind sehr vielfältig. Eine vollständige Darstellung würde hier zu komplex geraten. Überblicksweise sei darauf hingewiesen, dass es unter anderem Leistungen in den Bereichen Arbeit, Wohnen, Geld (Geldleistungen und Steuererleichterungen), Alltagsleben (Parkplätze, uvm.), Mobilität (Begleitung, spezielle Kfz, etc.) gibt. Das im Sozialbereich tätige gemeinnützige beta-Institut hat eine hübsche tabellarische Übersicht erstellt. Ebenfalls das beta-Institut gibt jedes Jahr einen ausführlichen Ratgeber zum Thema Behinderungen und Nachteilsausgleich heraus (hier die Version für 2021).

Wie immer gilt außerdem: Beantragen Sie alles, was in Betracht kommt! Nicht Sie sollen Ihren Grad der Behinderung und die zugehörigen Leistungen feststellen. Lassen Sie das ruhig die Behörde machen. Wenn Sie dann mit dem Ergebnis unzufrieden sind, können Sie immer noch über weitere Schritte wie Widerspruch und Klage nachdenken.

6. Wo stelle ich einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung?

Zuständig für Anträge auf Zuerkennung eines Behinderungsgrades und der Schwerbehinderung inklusive der Ausstellung eines Ausweises sind die nach Landesrecht zuständigen Versorgungsämter. In Berlin ist das zum Beispiel das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo), in Brandenburg das Landesamt für Soziales und Versorgung (LASV).

Schwerbehindertenausweis gegen das Versorgungsamt erstritten

Es war wie so oft: Dem Mandanten war ein Grad der Behinderung von lediglich 40 durch das Versorgungsamt festgestellt worden.

Als schwerbehindert gilt man jedoch erst, wenn der Grad der Behinderung (GdB) nachgewiesenermaßen 50 oder mehr beträgt. Grundlage dür die Bemessung des  Grades der Behinderung sind vor allem die behandelnden Ärzte und die im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeschalteten begutachtenden Ärzte. In einem ersten Schritt wird jeder Funktiontsbeeinträchtigung zunächst ein Einzel-GdB zugeordnet und daraus der Gesamt-GdB gebildet. Die Bildung des Gesamt-GdB ist durch das Sozialgericht voll überprüfbar, es findet eine Wertung und Gewichtung statt. Der Gesamt-GdB errechnet sich jedoch nicht einfach aus den addierten Einzel- GdB. Hier sind sozialrechtliche Erfahrung und profunde Kenntnisse medizinischer Sachverhalte unabdingbar.

Die Leiden des  Mandanten waren: beidseitig schwerhörig (Einzel-GdB 30), Kunstgelenkersatz beidseitig der Hüfte (Einzel-GdB 20), degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und Bandscheibenschäden (Einzel-GdB  20), eingepflanzte Kunstlinsen beidseitig und Sehminderung beidseitig (Einzel-GdB 20) sowie Bluthochdruck (Einzel-GdB 10). Nach einer intensiven mündlichen Verhandlung beim Sozialgericht Berlin stimmte dann letztendlich das Versorgungsamt zu und stellte den begehrten Grad der Behinderung von 50 fest, wodurch der Mandant nun auch endlich den Schwerbehindertenausweis ausgestellt bekommt. Es zeigte sich abermals, dass es sich lohnt gegen behördliche Entscheidungen gerichtlich vorzugehen.