4 wichtige Tipps für Pflegegrad und Pflegestufe

Pflegebedürftigkeit betrifft irgendwann fast alle alten Menschen. Für sie und ihre Angehörigen bleibt es dennoch oft ein schwer zu überblickendes Thema.

Tipp 1: Pflegegrad vs. Pflegestufe

Mehmet ist 60 Jahre alt. Jede Woche geht er seinen Vater Mustafa besuchen. Der wohnt alleine; Mehmet bringt Einkäufe und Zeit für eine Tasse Tee mit. Mustafa würde man auf den Blick als rüstigen Rentner bezeichnen. Er ist zwar schon 85 Jahre alt. Doch ist er noch flott auf den Beinen und überholt bei seinen täglichen Spaziergängen so manchen trödeligen Hipster auf den Straßen Berlins.

Mehmet hat allerdings ein Problem. Mustafa ist dement und dies schon im fortgeschritteneren Stadium. Manchmal kommt er von seinen Spaziergängen nicht mehr nach Hause und Mehmet muss ihn suchen. Mustafa vergisst seine Medikamente, den Abwasch und die Lebensmittel im Kühlschrank. Er schließt teure Abos ab und kauft sich einen neuen Sportwagen. Mehmet müsste viel öfter zu Besuch kommen oder sein Vater bräuchte eine bessere professionelle Betreuung. Doch gibt es dafür genug Geld von der Pflegekasse?

Der Pflegegrad, bzw. die Pflegestufe entscheidet maßgeblich über die Lebensqualität im hohen Alter.
Der Pflegegrad, bzw. die Pflegestufe entscheidet maßgeblich über die Lebensqualität im hohen Alter.

Diesen Fall habe ich einem von mir bearbeiteten Mandant nachgezeichnet. Das liegt schon einige Zeit zurück und so stellte sich die Frage nach der Unterstützung von der Pflegeversicherung noch dem alten Recht der Pflegestufen. Damals gab es im Wesentlichen drei Pflegestufen. Die Einstufung erfolgte danach, wie viel Zeit die für eine Person notwendige Hilfe benötigt.

Die Pflegestufe I gab es erst bei 90 Minuten Pflegebedarf täglich. Für Pflegestufe II waren 180 Minuten nötig, für Pflegestufe III 300 Minuten. Bewertet wurden dabei vor allem körperliche Fragen, zum Beispiel ob die Person eigenständig essen, sich anziehen oder für Bewegung sorgen kann. Demenzkranke Menschen erreichten dabei häufig nicht einmal die Pflegestufe I. Mustafa kommt von seinen Spaziergängen nicht mehr nach Hause? Naja, jedenfalls kann er noch gehen. Er vergisst zu essen? Aber er kann doch noch kochen. Mustafa verprasst sein ganzes Geld? Egal, er kann noch schreiben und sprechen.

Aufgrund dieser Mängel wurde das System reformiert und zum Jahresbeginn 2017 die Pflegegrade eingeführt. Es gibt nun fünf Pflegegrade. Die Einstufung erfolgt zwar nach wie vor mittels einer Begutachtung und eines Fragebogens. Dort spielen aber psychische und kognitive Beeinträchtigungen der Selbsthilfefähigkeit der pflegebedürftigen Person eine deutlich größere Rolle als allein körperliche Gebrechen. Auch der reine Zeitaufwand für Pflegepersonal/Angehörige hat ein geringeres Gewicht als zuvor bei den Pflegestufen. Es kommt mehr auf Fähigkeit der Person an, ein selbstständiges Leben zu führen.

Tipp 2: Wann gibt es welchen Pflegegrad?

Für die Frage, wann es welchen Pflegegrad gibt, kommt es auf das Maß der Schwierigkeiten an, die eine pflegebedürftige Person daran hindern, ein selbstständiges Leben zu führen. Um dies zu bestimmen, wird die betroffene Person mittels eines Kataloges von Fragen aus sechs Lebensbereichen begutachtet.

Je nachdem wie viel Kriterien erfüllt werden und wie diese zu gewichten sind, werden die Pflegegrade zugeteilt (§ 15 Abs. 3 SGB XI). Zum Beispiel gibt es den Fragenkatalog auf der Seite des Sozialverbandes Deutschland [PDF].

Tipp 3: Wie viel Geld gibt es bei welchem Pflegegrad?

Das Sozialgesetzbuch XI sieht verschiedene Leistungen bei Pflegebedürftigkeit vor. Eine Übersicht findet sich in § 28 SGB XI. Es werden dabei verschiedene Leistungsarten mit ihren jeweiligen Höchstsummen unterschieden. Dazu folgende Übersicht:

PflegesachleistungenPflegegeldVollstationäre Pflege
Pflegegrad 1125 Euro
Pflegegrad 2724 Euro316 Euro770 Euro
Pflegegrad 31.363 Euro545 Euro1.262 Euro
Pflegegrad 41.693 Euro728 Euro1.775 Euro
Pflegegrad 52.095 Euro901 Euro2.005 Euro
Zeitpunkt der Datenlage: 26. Februar 2022

Bei der vollstationären Pflege fließt der Geldbetrag als Zuschuss an das Pflegeheim. Seit Januar 2022 gibt es hier außerdem einen weiteren besonderen Zuschlag. Die Beträge der Pflegesachleistungen erhalten Pflegebedürftige, die zu Hause von Angehörigen oder einem Pflegedienst betreut werden. Trotz des Begriffes „Sachleistungen“ fließt natürlich Geld.

Allerdings muss die Verwendung mit Rechnungen belegt werden und nur die belegte Höhe, nicht die angegeben Maximalsummen werden tatsächlich gezahlt. Pflegegeld erhält, wer ehrenamtlich Hilfe zu Hause für eine pflegebedürftige Person leistet (Angehörige, Freunde, Nachbar:innen). Neben diesen gibt es einige weitere Leistungen (zum Beispiel Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege, Entlastungsleistungen, Wohnraumanpassung, Hilfsmittel im Pflegeheim; siehe § 28 SGB XI).

Tipp 4: Antragstellung und Rechtsmittel (Widerspruch, Klage)

Den Weg zum Erhalt von Pflegegrad und den entsprechenden Leistungen möchte ich Ihnen in einer Schritt-für-Schritt-Anleitung darstellen:

  1. Antrag bei der Gesetzlichen Pflegeversicherung. Diese ist der Krankenkasse zugeordnet; Sie können sich also einfach an jene wenden. Ein formloser Antrag genügt, zum Beispiel eine einfache Nachricht per E-Mail.
  2. Die Pflegeversicherung wird Ihnen nun Unterlagen zuschicken und einen Termin zur Begutachtung der pflegebedürftigen Person vorschlagen.
  3. Die Begutachtung wird durchgeführt. Angehörige dürfen anwesend sein.
  4. Das Ergebnis trifft ein. Ein Pflegegrad wird per „Bescheid“ zuerkannt.
  5. Damit können Sie nun die einzelnen Leistungen der Pflegeversicherung beantragen!

Sind Sie mit dem Ergebnis der Begutachtung nicht zufrieden, zum Beispiel weil wichtige Aspekte vergessen wurden oder zu geringer Pflegegrad zuerkannt wurde, empfehle ich Ihnen, Widerspruch einzulegen. Dazu genügt ebenfalls ein formloses Schreiben an die Pflegeversicherung. Informationen dazu müssten auch auf dem Bescheid zu finden sein. Vorsicht: Die Frist zum Widerspruch beträgt einen Monat. Sie können den Widerspruch alleine einlegen oder schon an dieser Stelle eine:n Anwält:in einschalten. Spätestens bei abgelehntem Widerspruch und dann notwendiger Klage ist dies sehr zu empfehlen.

Bundessozialgericht stärkt Pflege-WGs

Wohngemeinschaften sind unter Studierenden und anderen jungen Leuten ein alter Hut. Doch auch die Zahl der Senioren-WGs nimmt mittlerweile zu. Die Vorteile liegen auf der Hand. Gemeinschaftliches Wohnen kann Einsamkeit im Alter entgegenwirken. Das Leben in der Wohngemeinschaft ist in der Regel auch günstiger als alleine oder zu zweit. Schließlich können sich die zusammenlebenden Senioren gegenseitig unterstützen. Natürlich verlangt das alles ein wenig guten Willen, denn je mehr Personen, desto mehr Meinungen leben auch unter einem Dach.

Die finanzielle Förderung von Pflege-WGs

Doch auch der Staat hat das Potential von Pflege-WGs erkannt und fördert diese seit 2012 mit dem sogenannten Wohngruppenzuschlag. Nach § 38a SGB XI erhalten die Bewohner*innen solcher WGs zusätzlich 214 Euro monatlich, um „[eine beauftragte Person] allgemeine organisatorische, verwaltende, betreuende oder das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten verrichten oder die Wohngruppenmitglieder bei der Haushaltsführung unterstützen [zu lassen].“ Dabei lässt der Staat in Person der Pflegekassen natürlich den Rubel auch nicht ganz uneigennützig springen. Vielmehr soll ein Anreiz gesetzt werden, im Fall der Pflegebedürftigkeit nicht gleich die vollstationäre Pflege in Anspruch zu nehmen, die gewöhnlich deutlich teurer ist.

Leider haben in der Praxis weniger Personen von dieser Förderung profitiert als diese es sich erhofften. Vielen wurde der beantragte Zuschlag verweigert, weil die Pflegekassen die Voraussetzungen nicht vorliegen sahen. Die Wohnung sei nicht gemeinschaftlich genug. Die Unterstützung der WG werde nicht durch eine einzige Person, sondern durch mehrere oder durch einen Verein oder ein Unternehmen besorgt. Oder schließlich, die Unterstützung sei nicht in ausreichender Weise gemeinschaftlich beauftragt worden. Die Sozialgerichte und Landessozialgerichte bestätigten in der Regel die Ablehnung der Leistungen.

Bundessozialgericht hilft Wohngemeinschaften

Dem hat das Bundessozialgericht (BSG) nun einen Riegel vorgeschoben. Mit drei Urteilen vom 10. September 2020 (Aktenzeichen B 3 P 2/19 R, B 3 P 3/19 R, B 3 P 1/20 R) entschied es, dass die Latte für den Erhalt des Wohngruppenzuschlags nicht zu hoch gehängt werden dürfe (Pressemitteilung). Das gesetzliche Ziel, ambulante Wohnformen pflegebedürftiger Menschen unter Beachtung ihres Selbstbestimmungsrechts nach § 2 Abs. 1 SGB XI zu fördern, sei zu beachten. Natürliche müsse sichergestellt bleiben, dass nicht professionelle Anbieter ihre Angebote an stationärer Vollpflege als Wohngemeinschaften umdeklarierten, um in den Genuss der Förderung zu kommen. Dabei liege eine ambulante, wohngruppenzuschlagstaugliche Versorgungsform vor, „wenn keine vollständige Übertragung der Verantwortung ohne freie Wählbarkeit der Pflege- und Betreuungsleistungen erfolgt, sondern wenn die Versorgung auf die Übernahme von Aufgaben durch Dritte angelegt ist, unabhängig davon, ob auch tatsächlich davon in bestimmter Weise Gebrauch gemacht wird.“ Denn mit dem Wohngruppenzuschlag solle Pflegebedürftigen geholfen werden, die noch selbst einen Großteil ihres Alltags bewältigten und die nur punktuelle Unterstützung benötigen.

Senioren-WGs dürfen also Vereine oder Unternehmen für die allgemeine Unterstützungsleistungen beauftragen; sie dürfen eine eigene Küchenzeile in ihrem persönlichen Zimmer haben, wenn darüber hinaus auch noch Gemeinschaftsräume verfügbar sind; die in § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI geforderte „gemeinschaftliche Beauftragung“ darf auch konkludent geschehen, d.h. bei jedem Zuzug eines Bewohners muss nicht ein neuer schriftlicher Beschluss gefasst werden. Auch, wenn die Pflegekasse den Antrag auf Wohngruppenzuschlag aus anderen Gründen ablehnt, dürfte nach dem neuen Urteil des BSG eine gerichtliche Überprüfung des Bescheids bessere Aussicht auf Erfolg haben. Übrigens ist der Wohngruppenzuschlag nicht nur für Senioren-WGs möglich; auch alle anderen Arten von Pflege-WGs können ihn erhalten.